Kürzlich trafen sich die Leiter des Anleihenteams von Neuberger Berman auf unserer Jahreskonferenz in London. Es war eine gute Gelegenheit zu persönlichen Gesprächen mit unseren Portfoliomanagern aus den Niederlassungen in London, Paris, Den Haag und Mailand. Außerdem konnten wir uns ein Bild von den europäischen Anleihenmärkten machen.
Anleihen sind zurück, und zwar weltweit. Für Europa gilt das aber ganz besonders. Hier lagen die Renditen aller Kern-Staatsanleihen lange unter null, und die deutsche Zehnjahresrendite war fast drei Jahre lang negativ. Mehr und mehr erkennen internationale Anleger, wie attraktiv klassische europäische Investmentgrade-Anleihen sind. Der Carry durch eine Absicherung in US-Dollar ist zwar seit 2022 gefallen, liegt aber mit 1,4% noch immer über null. Das ergibt 4% bis 5% Gesamtrendite.
Lesen Sie, warum wir europäische Kernanleihen für interessant halten. Vielleicht sind sie attraktiver, als viele Investoren meinen.
Weg vom Marktkonsens
Im letzten Fixed Income Investment Outlook schrieben wir, dass wir in den meisten Ländern mittlere Laufzeiten bevorzugen. Auch das gilt wieder ganz besonders für Europa.
Zwischen zwei und fünf Jahren schätzen wir die Risikoprämien von Euroraum-Anleihen auf fast einen ganzen Prozentpunkt, so viel wie noch nie. Gerade bei mittleren Laufzeiten sind wir uns besonders sicher, weil wir auch unsere Inflations- und Leitzinsprognosen für sehr zuverlässig halten.
Das ist deshalb so wichtig, weil sie ein wenig vom Marktkonsens abweichen.
Im Juni rechnet zwar niemand mehr mit einer Zinssenkung der Fed, aber die Wahrscheinlichkeit einer Zinssenkung der EZB beträgt aus Marktsicht noch immer über 80%. Was aber danach kommt, scheint uns weniger sicher – aus zwei Gründen:
Da sind zum einen EZB-Falken wie Joachim Nagel. Letzte Woche deutete er eine Senkung im Juni an, fügte aber gleich hinzu, dass „nicht zwangsläufig eine Zinssenkungsserie folgen“ werde.
Zweitens glauben wir, dass viele Anleger noch immer von den USA auf Europa schließen: Sie übertragen ihre Sicht zur US-Inflation – die nach den neuen PCE-Daten letzte Woche noch etwas pessimistischer wurde – auf den Euroraum.
Wir können das durchaus nachvollziehen. Als die US-Inflation 2022 stieg, folgte der Euroraum mit drei bis sechs Monaten Abstand. Viele glauben, dass es jetzt wieder so kommt und die europäische Inflation dann ebenso hartnäckig ist wie die amerikanische. Wir schätzen die Lage aber völlig anders ein.
2% in Sicht?
Natürlich hat sich die US-Wirtschaft gemäß den Einkaufsmanagerindex- und BIP-Daten der letzten Woche etwas abgekühlt, während sich Europa weiter erholt. Getrieben wird die Erholung aber fast vollständig vom Dienstleistungssektor, der bislang nur wenig Anteil an der Teuerung hatte.
Die Arbeitskräftenachfrage ist auch in Europa hoch, aber weit vom amerikanischen Überschwang entfernt. Die meisten Lohnabschlüsse sind in Europa nicht nur niedriger, sondern auch langfristiger, was die Arbeitskostenentwicklung berechenbarer macht.
In Europa könnte sich die Inflation daher grundlegend anders entwickeln als in den USA, wo vor allem die Coronafolgen auf der Nachfrageseite die Preise trieben. Die Amerikaner hatten viel gespart und gaben ihr Geld jetzt aus. In Europa war aber der Krieg in der Ukraine entscheidend. Hier kam es zu Angebotsstörungen an den Energie- und Nahrungsmittelmärkten. Heute sorgen steigende Löhne in den USA weiterhin für eine nachfrageinduzierte Inflation, während der angebotsbedingte Preisauftrieb in Europa nachlässt.
Außerdem glauben wir, dass die Basiseffekte nach der hohen Teuerung im Vorjahr in Europa in den nächsten zwei Quartalen wesentlich günstiger sind als in den USA.
Konsens ist, dass die Kerninflation im Euroraum von zurzeit 2,9% bis zum Jahresende allenfalls mit Mühe auf 2% fällt. Wir meinen hingegen aus den genannten Gründen, dass es schon kurz nach dem Sommer so weit sein kann.
Dann könnte die EZB ihren Leitzins dieses Jahr tatsächlich viermal senken – und nicht nur zweimal, wie der Markt erst einmal annimmt. Eine Zinssenkung im Juni halten wir ohnehin für eine beschlossene Sache.
Straffung an der Peripherie
Wir glauben also, dass die Zinsen in Europa schneller fallen als vom Markt erwartet. Aber warum schätzten wir in unserem letzten Fixed Income Investment Outlook italienische und spanische Staatsanleihen dann nur neutral ein, während wir Kernanleihen übergewichten wollen?
Das liegt vor allem daran, dass sich die Peripherieländer-Spreads nach dem Ende der größten Inflationssorgen ähnlich entwickelt haben wie andere Credit Spreads, statt auf die Zinserwartungen zu reagieren. Sie haben sich dieses Jahr also deutlich verengt. Ein Großteil der guten Inflationsnachrichten dürfte daher bereits in den Kursen berücksichtigt sein, auch wenn wir für Spanien und Portugal vorsichtig optimistisch bleiben.
Normalisierung
Konsens ist, dass europäische Anleihen interessant sind. Diese Position vertreten wir auch, aber mit mehr Enthusiasmus als die meisten anderen. Wir glauben, dass sich Investoren von der hartnäckigen US-Inflation haben beirren lassen. Aber sie ist für Europa nur begrenzt wichtig.
Um es klar zu sagen: Unsere Einschätzung hat nichts damit zu tun, dass wir eine plötzliche Lockerung der EZB-Geldpolitik erwarten. Nach den raschen Zinserhöhungen – einer Notmaßnahme, als die Inflation außer Kontrolle zu geraten drohte – halten wir Senkungen um 100 Basispunkte für ganz normal. Bei 2% Inflation und 1% Wachstum wäre ein Leitzins von 3% ein angemessener Wert.
Dennoch sind unsere „Normalisierungserwartungen“ noch immer optimistischer als die des Marktes. Deshalb sehen wir gute Chancen.
Von Brad Tank, Co-Chief Investment Officer – Fixed Income; Ashok Bhatia, Co-Chief Investment Officer – Fixed Income; Patrick Barbe, Senior Portfolio Manager – Investment Grade; alle Neuberger Berman